In der April-Nummer 1999 von Le Monde Diplomatique tauchte eine neue Ländergruppe auf: Entités chaotiques ingouvernables, also chaotische und unregierbare Gebilde, deren Staatlichkeit kollaborierte. Für manche Autoren bilden viele Länder aufgrund zerbrechlicher oder schon zusammengebrochener Staatlichkeit nur noch virtuelle Konstrukte auf der politischen Landkarte, die mangels Daten auch in internationalen Statistiken nicht mehr existieren. Für sie fallen diese gescheiterten, zerfallenden oder bereits "zerfallenen Staaten" (failed states), "quasi-states" oder Schrumpfstaaten sowohl aus dem Erklärungsbereich der Entwicklungstheorie als auch aus den Zielgebieten sinnvoller Entwicklungspolitik heraus. Dies gilt vor allem für viele afrikanische Länder, beispielhaft für die Demokratische Republik Kongo, Liberia, oder Somalia, deren Staatlichkeit nur noch auf dem Papier steht. Sie tauschen auch nicht mehr im Africa Competitiveness Report auf.
Zerfallene Staaten schaffen nicht nur ein Entwicklungsproblem, sondern auch ein regionales und internationales Sicherheitsproblem. Erstens können durch die sich ausbrietende Anarchie auch kleine Fortschritte zunichte gemacht, Investoren und Hilfsorganisation abgeschrekt werden. Zweitens sind diese Quasi-Staaten, in dessen Hohlräumen der Macht sich private Machtkartelle auf der Grundlage krimineller Renten aus dem Drogen- oder Waffenschmuggel und dem Geschäft mit "blutigen Diamanten" gebildet haben, Unsicherheitsherde für die Nachbarstaaten, Brutstätten von Gewaltökonomien und häufig auch Rückzuggebiete von terroristischen Organisationen. Sie bilden damit auch ein regionales oder sogar globales Sicherheitsproblem, wie die vom "wilden Hindukusch" aus operierende al-Qaida lehrte. Noch herrscht große Ratlosigkeit, wie die Sicherheits- und Entwicklungspolitik mit diesem Problem umgehen soll.
[...] 267-292 - Annette Büttner: "Staatszerfall als neues Phänomen der internationalen Politik: Theoretische Kategorisierung und empirische Überprüfung". Marburg: Tectum - 2004. - Annette Büttner: "Wenn Chaos regiert: Staatszerfall in Entwicklungsländer. Ursachen, Folgen und Regulierungsmöglichkeiten." Marburg - 2004 - Rainer Tetzlaff: "Sicherheitspolitik in Afrika zwischen Bürgerkriegen, Staatszerfall und Demokratisierungsbemühungen". In: Daase, Christopher et al. Regionalisierung der Sicherheitspolitik: Tendenzen in den internationalen Beziehungen nach dem Ost-West-Konflikt. Baden-Baden: Nomos, S. [...]
[...] International hat sich der Begriff "fragile states" durchgesetzt, der mit folgenden Phänomenen verknüpft ist: Abnehmende staatliche Legitimität nach innen und außen: Dies bezieht sich auf die interne Akzeptanz von Regierungen bei BürgerInnen sowie ihre Akzeptanz in der internationalen Gemeinschaft. Bekanntes Beispiel für eine Regierung mit geringer interner und externer Legitimität ist z.B. Liberia unter Präsident Charles Taylor. Abnehmende Handlungs- und Funktionsfähigkeit eines Staates: Defizite in den Kernfunktionen des Staates sind Merkmale für fragile Staatlichkeit. Die unzureichende Gewährleistung physischer Sicherheit für die BürgerInnen, die mangelhafte Bereitstellung von sozialen Grunddiensten trifft auf zahlreiche Länder zu, z.B. auf Staaten, die nur Teile ihres Staatsgebietes kontrollieren und damit nur in Teilen funktions- und handlungsfähig sind (Kolumbien, Sri Lanka und Sudan). [...]
[...] Bei Reform und Wiederaufbau des Staates wurden oft "westliche" Modelle und Standards zu Grunde gelegt. Diese können jedoch nur mäßigen Erfolg in Gesellschaften mit einer anderen Geschichte und Kultur haben. Oftmals ist der moderne Staat, so wie er in der westlichen Welt verstanden wird, in weiten Teilen einzelner Länder de facto nicht präsent oder bleibt ein nicht funktionierender Fremdkörper. Die Durchsetzung hierarchischer Zentralstaaten hat in vielen Fällen zu sozialen esintegrationsprozessen geführt und die ungleiche Verteilung von Einkommen und Zugang zu Dienstleistungen nicht verändert. [...]
[...] Vor dem Hintergrund dieser Merkmale lassen sich verschiedene Entwicklungstendenzen innerhalb von Staaten unterscheiden, wobei die Trennlinien zwischen den Trends durchlässig sind. Auf viele fragile Staaten trifft zu, dass Menschenrechtsverletzungen und privatisierte Gewalt (noch) verbreitet sind sowie völkerrechtlich verbindliche Abkommen und Verträge nicht eingehalten werden. Während des Ost-West-Konfliktes war Entwicklungspolitik ein Instrument der Außenpolitik mit der Folge, dass in zahlreichen Fällen klientelistische Herrschaft stabilisiert wurde. Damit hat sie zur Verstärkung struktureller Ursachen von Ungleichheit und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen - und damit auch zu mehr Instabilität - beigetragen. [...]
[...] Beispielsweise hat Somaliland, das über eine gewählte Verwaltung verfügt, explizit das clan-basierte Governance-System anerkannt.In Ruanda unterstützen Nachbarschaftsgerichte die staatliche Justiz bei der juristischen Aufarbeitung des Genozids. Wo der Staat versagt oder nicht präsent ist, erfüllen traditionelle Systeme grundlegende Funktionen auf lokaler Ebene. Strategisch geht es um die Anschlussfähigkeit von modernen und traditionellen/informellen Systemen, wobei diese über ein ausreichendes Maß an Legitimität und Repräsentativität verfügen müssen.Auch in traditionellen Systemen kommt es zu Amtsmissbrauch, Patronage, Menschenrechtsverletzungen, Geschlechterdiskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Ansätze zur Rekonstruktion, Demokratisierung und Reform von traditionellen Institutionen werden in einigen Ländern verfolgt (z.B. in Sierra Leone, Ruanda, Guatemala). [...]
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