"Es gibt keine Identität ohne Geschichte und es gibt keine Geschichte ohne Identität". Dieser Gedanke, der 2002 von Bundespräsident Johannes Rau zum Tag der Historiker ausgesprochen wurde, drückt die unbedingte Verflechtung der kollektiven Vergangenheit eines Volkes mit seinem Selbstverständnis aus.
Jede Nation und jedes Volk muss sich seiner Geschichte bewusst sein, um sich selbst verstehen zu können, genauso wie das Individuum Erinnerungen braucht um zu wissen, wer es ist. Identität wird also erheblich durch Geschichte gestaltet, doch wer gestaltet diese Geschichte? Historiker könnten meinen, sie sei objektiv; aber wie kann ein Mensch, der gefangen ist von seiner gesellschaftlichen-sozialen Umgebung und von den Einflüssen seiner Epoche, objektiv sein? Wie kann ein Wissenschaftler - unfrei von seiner selbst schon geformten Identität - objektiv Geschichte schreiben?
Die Geschichte der Geschichtsschreibung bis ins 21. Jahrhundert zeigt, dass Historiker, ob Angehörige einer demokratischen Gemeinschaft oder nicht, von ihrer Identität, von ihrer Nationalität beeinflusst werden. Doch auch das gesellschaftliche Umfeld und die Politik, beziehungsweise die regierende Macht, wirken auf die Geschichtsschreibung aus. Daher neigen die Nationen und deren Staaten dazu, ein positives Bild ihrer Geschichte zu entwerfen. Wer eine glorreiche Vergangenheit hinter sich hat, wird auch in der Gegenwart aufgewertet.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert wird jedoch von einer vorwiegend negativ bewerteten Erinnerung dominiert, die sogar die ruhmvolle Geschichte des deutschen Reiches im 19. Jahrhundert herabwürdigt und die ganze deutsche Kultur in Frage stellt.
Parallel zu dieser geschichtlichen Abwertung, kann man eine auβergewöhnliche Bewegung in der Geschichtsschreibung seit 1945 beobachten. Kein Land kannte so viele Kontroversen, Debatten und Gegnerschaften im Rahmen der Geschichtswissenschaft wie Deutschland. Und nicht nur Historiker trugen diesen Kampf um die Vergangenheit aus; Politiker, Journalisten und sogar das deutsche Publikum, ja die ganze Gesellschaft beschäftigte sich auf einmal mit ihrer eigenen Geschichte. Steht denn so viel auf dem Spiel? Angeblich ja.
Warum sollte Geschichte für das deutsche Selbstverständnis bedeutender sein als bei anderen Völkern?
Wie entwickelte sich die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit und was hat dies für Auswirkungen auf das Bild, dass sich die Deutschen von sich selbst gestalten?
Was passiert mit zwei getrennten Vergangenheiten, wenn im Rahmen eines Staates eine alleinige Identität wieder entstehen soll?
[...] Dieser Konflikt zeigt die problematische Herausforderung der „Berliner Republik“, die zwei Nationen vereinigen muss, deren Systeme nicht nur verschieden waren, sondern die auch in der Gegenüberstellung zum Nachbarn aufgebaut wurden. Daher ist auch die politische Kultur verschieden. Die ehemaligen DDR- Bürger neigen zu einer politischen Bedachtsamkeit, da sie sich während der Volksrepublik eher in die Privatsphäre zurückzogen und ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Staat entwickelten. Auβerdem sind sie an die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Bundesrepublik nicht gewöhnt, und die individualisierte „soziale Marktwirtschaft“ hat nichts mit ihrer ehemaligen, zwar armen, jedoch solidären Gesellschaft zu tun. [...]
[...] Die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit ist eine zentrale Komponente des deutschen Selbstverständnisses. Von 1945 bis heute entwickelten die Deutschen ein besonderes Bild von sich selbst, das vorwiegend pazifistisch, demokratisch, menschen- und bürgerrechtlich geprägt ist. Hier spielt nicht nur ihre eigenartige Geschichte eine besondere Rolle, sondern auch eine fünfzig Jahre lange und konfliktgeladene Vergangenheitsbewältigung. Kurz gefasst: Nicht nur Geschichte ist für eine Nation identitätsstiftend, sondern auch wie man diese Geschichte versteht und wie man sie im Zusammenhang zur Gegenwart in Betracht zieht. [...]
[...] Jahrhundert in ziemlich kurze und deutliche Perioden aufgeteilt ist, ist die Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland sehr wichtig: die Vergangenheit wird schneller zur Geschichte, doch ihre Auswirkungen sind noch sehr spürbar. Nicht nur weil manche Zeitzeugen noch leben, sondern auch weil ganze fortlebende Generationen zu dieser Geschichte beigetragen haben und weil die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse den neuen Zeitraum weiterhin stark beeinflussen. Daher spielt Geschichte eine zentrale Rolle für das deutsche Selbstverständnis. Schon ein paar Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches wurde dieses schreckliche Erlebnis von der Geschichtswissenschaft erforscht und vielfach interpretiert. [...]
[...] Wie Wilfried von Bredow es jedoch betont „dient Geschichte der Selbstvergewisserung deshalb, weil sie und sofern sie es fertig bringt, kollektive Identität trotz aller Verschiedenheiten, trotz aller Interessenzusammenstöβe, trotz all des Schlimmen, das die Angehörigen einer Gruppe, einer Nation, eines Volkes einander und anderen angetan haben, hervortreten zu lassen“.[15] Obwohl die Deutschen getrennt und gegeneinander konfrontiert wurden, teilen sie eine gemeinsame Geschichte. Nämlich die des deutschen Reiches, des Nationalsozialismus, die der Zweistaatlichkeit und die der Wiedervereinigung. Die Deutschen teilen die Geschichte einer eigenartigen Identität. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ (Helmut Kohl) Bibliographie Literatur - Capèle, Jean-Claude. L'Allemagne hier et aujourd'hui. Les Fondamentaux / Hachette Supérieure (Paris 2001) - Egner, Anton. Geschichte, Herausforderung der Moderne. [...]
[...] Akzeptanz oder Vergessen der deutschen Vergangenheit? Literatur hat wesentlich dazu beigetragen, Geschichte und Erinnerung in den Gesellschaften zu verbreiten. Auch Ausstellungen und Museen, wie die Wehrmachtausstellung oder das jüdische Museum in Berlin, haben zu einer Demokratisierung von Geschichtswissenschaft und Geschichtskenntnis beigetragen. Die Geschichtswissenschaft muss jedoch ihre Rolle beibehalten, um durch Forschung die komplexen Ursachen, Verlaufsformen und Folgen von Geschehen zu erklären und diskursiv darzustellen. In den 90er Jahren vernebelte jedoch ein amerikanischer Historiker die Dichotomie zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft erschien Daniel Jonah Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker / Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, das zum dritten Historikerstreit führte. [...]
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