Parteiverdrossenheit, Verlust an Glaubwürdigkeit, Abwanderung der Wähler zu den « Nichtetablierten » an den Rändern, Protesaktionen, Unzufriedenheite mit den politischen Parteien und dem Funktionieren der Demokratie, sinkende Wahlbeteiligung- schenkt man den Demoskopen Glauben, befindet sich das Parteiensystem in Deutschland in einer tiefen Krise. Dennoch ist das Parteiensystem der Bundesrepublik über Jahrzehnte relativ stabil geblieben. Zur aktuellen Standortbestimmung ist die Kenntnis der Geschichte des deutschen Parteiensystems notwendig.
Daher wird sich diese Arbeit mit der Entwicklung des deutschen Parteiensystems von dem Kaiserreich über Weimar bis zum wiedervereinigten Deutschland befassen. Im übrigen wird auf die Parteien im Dritten Reich und in der DDR nicht eingegangen. Unter dem Begriff « Parteiensystem », auf den später noch vertieft eingegangen wird, werden wenigstens zwei gegeneinander konkurrienrende Parteien verstanden – welche es weder im nationalsozialistischen noch im kommunistischen Deutschland gab. Ein sogenanntes « Ein-Parteiensystem » ist ein Widerspruch in sich. So ist die Kernfrage bei dem Versuch die Entwicklungslinien des deutschen Parteiensystems über mehr als ein Jahrhundert hinweg zu skizzieren, jene nach der Kontinuität oder dem Wandel des Parteiensystems: welche sind die Kontinutäts- bzw. Stabilitätslinien, welche die Kontinuitätsbrüche in der Geschichte des Parteiensystems? Was sind die Ursachen hierfür?
Wenn wir auf die Geschichte und die Entwicklung der Parteien, bzw. des Parteiensystems zurückblicken möchten, müssen zunächst die grundlegenden Konzepte und Begriffe definiert und erklärt werden.
Das heisst, dass wir erst den Begriff des Parteiensystems erklären müssen. Allgemein gilt heutzutage die Aufassung, dass der Begriff « Parteiensystem » ein « Fachausdruck für die Gesamtheit der in einem politischen Gemeinwesen agierenden Parteien und die Regelmässigkeiten ihrer wechselseitigen Beziehungen » ist (SCHMIDT, Wörterbuch zur Politik, S. 704). Parteiensysteme können nach verschiedenen Merkmalen klassifiziert werden. Die älteste Klassifikation basiert auf der Zahl aller Parteien oder aller Parteien ab einer bestimmten Mindestgrösse. Hierauf gründet sich die Unterscheidung von Zwei- oder Vielparteiensystemen sowie detaillierte Messungen der Fraktionalisierung eines Parteiensystems. Parteiensysteme werden überdies häufig anhand der dominierenden Strategie der wichtigsten Parteien beschrieben, z.B. einer wettbewerbsorientierten Strategie wie in der Konkurrenzdemokratie und einer kooperativen Strategie wie in der Konkordanzdemokratie. Zur Beschreibung eines Parteiensystems gehören auch die nach Stimmen-, Parlamentssitz- und Kabinettssitzanteilen ermittelten Stärken einzelner Parteien oder Parteienfamilien, die Machtverteilung zwischen wichtigen Parteien oder politisch-ideologischen Parteienfamilien, die Art und die Bereitschaft zur Koalitionsbildung sowie die politisch-ideologische Distanz zwischen den Parteien, die Verankerung dieser Parteien in bestimmten Konfliktlinien und schliesslich die Volatilität sowie die Anzahl und Stärke von Anti-System Parteien.
[...] Danach formiert sich die politische Arbeiterbewegung in die schätzungsweise 50% der Arbeiterschaft integriert wird. Dieses Milieu gewinnt auch einen Weltanschaulichen Charakter, indem sich aus dem Ressentiment gegen die bügerlich-christliche Gesellschaft eine besondere Moral entwickelt. Soweit dieses Milieu vorstrukturiert ist, wird die Sozialdemokratie sein politischer Aktionsverband. Sie verdankt diesem Milieu ihren raschen Aufstieg von 1890 bis 1912. Ähnlich wie das Zentrum konnte sich die Sozialdemokratie auf eine ganze Reihe von Vereinen und Verbänden wie die Freien Gewerkschaften (1914 : 2,5 Milionen Mitglieder) stützen (WAHL, op. [...]
[...] Hierin spiegelt sich noch vor der Wirtschaftskrise, noch vor dem Massenerfolg der Nazis die Selbsauflösung des deutschen Parteiensystems wider(M. Rainer LEPSIUS, op. cit., S.36). Die Krise der Jahre 1929 bis 1933 führt dann zu der Liquidierung eines seit sechzig Jahren relativ stabilen Parteiensystems. Dieser Zusammenbruch nimmt seinen Beginn mit der Desintegration der politischen Organisation des evangelisch-bürgerlichen Liberalismus, die sich seit den neunziger Jahren abzeichnet und nach 1920 schnell fortschreitet. Allerdings kann die relative Stabilität und Widerstandskraft gegenüber den Nationalsozialisten, die Zentrum wie Sozialisten bewiesen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Parteirichtungen stagnierten. [...]
[...] Die Stellung der Parteien gegenüber diesen Konfliktlinien ist entscheidend für eine mögliche Koalitionsbildung. Die Polarisierung blieb nach den traumatischen Erfahrungen von Weimar und angesichts prosperierender, stabiler Verhältnisse in der BRD begrenzt und lässt weithin Koalitionsoptionen zu. Die starke Modernisierung Deutschlands ab den 50er Jahren führte auch zu einer gewissen Entideologisierung der Parteien. Im Jahr 1959 in dem berühmtgewordenen Kongress von Bad Godesberg hat die SPD ihre marxistische Ideologie aufgegeben, die Sozialdemokraten bekannten sich als Anhänger der sozialen Marktwirtschaft und einer freiheitlichen und kapitalistischen Gesellschaft. [...]
[...] Diese sinkende Bedeutung führte zu einer gewissen Desideologisierung des Parteiensystems. Daraus ergibt sich, dass die Kooperations- und Koalitionsbereitschaft der Parteien untereinander deutlich grösser geworden ist. Dafür ist die Grosse Koalition zwischen Union und SPD 1966/69 das beste Beispiel. Kompromisse sind heute nicht nur geschätzt, sondern auch notwendig aufgrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Republik, was ein grundsätzlicher Bruch zu den Weimarer Verhältnissen bildet. Es liegt auf der Hand, dass die historische Realität irgendwo zwischen Kontinuität und Diskontinuität angesiedelt ist, dass die deutsche Parteiensystemgeschichte durch eine Dialektik von Stabilität und Wandel bestimmt ist. [...]
[...] Zur Beschreibung eines Parteiensystems gehören auch die nach Stimmen-, Parlamentssitz- und Kabinettssitzanteilen ermittelten Stärken einzelner Parteien oder Parteienfamilien, die Machtverteilung zwischen wichtigen Parteien oder politisch-ideologischen Parteienfamilien, die Art und die Bereitschaft zur Koalitionsbildung sowie die politisch- ideologische Distanz zwischen den Parteien, die Verankerung dieser Parteien in bestimmten Konfliktlinien und schliesslich die Volatilität sowie die Anzahl und Stärke von Anti-System Parteien. Durch die Kombination dieser verschiedenen Merkmale hat man komplexere Parteiensystem-Typologien geschaffen, so z.B. die Unterscheidung zwischen Zweiparteiensystemen mit alternierender Regierung (z.B. die Vereinigten Staaten), gemässigtem Pluralismus (z.B. [...]
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